Falstaff – Eine vollkommene Komödie

08.05.2024
Interview
© Romana Stücklschweiger

Am 15. Mai feiert Giuseppe Verdis letzte Oper Falstaff unter der musikalischen Leitung von Kai Röhrig und in der Regie von Florentine Klepper Premiere. Spannende Einblicke in die Produktion und deren Entstehung geben die beiden Künstler*innen im Doppelinterview.

Verdi hat mit seiner letzten Oper den Grundstein für eine ganz neue und moderne Musiksprache gelegt – ungemein vielschichtig, farbenreich und sehr präzise komponiert. Auch die einzelnen Charaktere sind musikalisch genau beschrieben. Welche Aspekte stechen besonders hervor, wo „menschelt“ es am meisten im Verlauf der Oper?

Kai Röhrig: Giuseppina Strepponi, Verdis zweite Ehefrau, meinte über diese Oper, Verdi habe mit ihr ein neues Genre begründet und gleichzeitig sei der Falstaff das einzige Werk dieses Genres. In der Tat stellt Verdis letzte Oper, sechs Jahre nach Otello komponiert, ein höchst originelles Unikat dar. Für mich subsummiert Verdi hier sein gesamtes Oeuvre und wirft gleichzeitig einen lächelnden und liebevollen Blick zurück auf die reiche italienische Operntradition des 19. Jahrhunderts. Außerdem ist der Falstaff vor allem auch eine leidenschaftliche Hommage an das Theater. Nach früheren Plänen für eine Oper rund um die Figur des Sir John fand Verdi in Arrigo Boito erst spät einen kongenialen Partner für die Vertonung dieses Stoffes nach diversen Theaterstücken von William Shakespeare. Der keinesfalls altersmüde Blick des achtzigjährigen Komponisten auf das Personal der Komödie ist ebenso brillant wie leidenschaftlich. Was mich fasziniert, ist, wie Verdi die Universalität des Librettos in Töne gesetzt hat. Er charakterisiert messerscharf und pointiert, komponiert sozusagen stets das Momentum. Gleichzeitig „dient“ seine Musik jederzeit der dramatischen Situation und folgt den Figuren in alle Regungen und Emotionen. All dies macht für mich den Falstaff zu einem der genialsten Werke der Opernliteratur. Hier ist alles in Balance, jedes Teilchen ist Bestandteil eines großen Ganzen. Falstaff ist vom ersten bis zum letzten Ton eine vollkommene Komödie mit Musik.

Florentine Klepper: Mittlerweile – nach intensiven Probenwochen – teile ich Kais Begeisterung für das Werk voll und ganz, auch wenn ich gestehen muss, dass ich bisher um Falstaff immer einen großen Bogen gemacht habe. Das Stück erzählt über Liebes- und Lebenskonzepte unterschiedlicher Generationen, wobei die Figur des Falstaff als in die Jahre gekommener Schürzenjäger wie ein Systemsprenger agiert und verborgene Sehnsüchte und Ängste an die Oberfläche befördert. Zum einen hatte ich bisher immer die Sorge, dass mir beim Inszenieren die Figuren zu klischeehaft im Sinne von „jung und naiv“ oder „alt und verbittert“ geraten würden. Dieser Gefahr sind wir mit unserer Produktion insofern gar nicht ausgesetzt, da wir ein durchgehend junges Ensemble haben. Durch diesen Eingriff rücken die Figuren näher zusammen und verschiebt sich der Fokus in Richtung Charakterstudie einer jungen modernen Generation. Zum anderen empfinde ich es als große Herausforderung, die komödiantische Vorlage aus der Szene heraus zu entwickeln, damit meine ich eben keinen „Schenkelklopf-Humor“, sondern vielleicht auch mal feinere und eher absurde Momente, die sich aus der jeweiligen Situation heraus ergeben und weder draufgesetzt noch altbacken wirken.

Meine Lieblingsmomente sind die großen Ensembleszenen, in denen viele Aktionen simultan stattfinden und vor allem in so hoher Geschwindigkeit, dass wir beim Zuschauen fast nicht mehr folgen können. Während die Studierenden virtuos jonglieren müssen zwischen musikalischer und schauspielerischer Präzision, verlieren die Figuren allmählich die Kontrolle über ihr Handeln.

Abgesehen von der Rolle der Alice Ford sind diesmal alle Rollen einzeln besetzt – wie kam es zu dieser Entscheidung?

Röhrig: Vor zwei Jahren haben wir mit der Oper Il Campiello von Ermanno Wolf-Ferrari das Ensemble in den Mittelpunkt unserer Arbeit gestellt. Auch im Falstaff ist das Ensemble der Star. Natürlich gibt es da die gigantische Titelpartie, aber abgesehen davon sind alle Rollen sehr ausgeglichen gewichtet. Trotz arioser Passagen ist die Oper vor allem ein durchgängiges Ensemblewerk. Aus pädagogischer Sicht ist dies absolut wertvoll und die intensive Probenarbeit stellt für unsere Studierenden eine enorm bereichernde und gemeinschaftsfördernde Erfahrung dar. Alles lebt vom Miteinander, niemand „wirkt“ ohne die anderen. Das Schicksal hat Sergej Korotenko, unseren Darsteller der Rolle des Falstaff, an das Mozarteum zurückgebracht, nachdem er hier bereits vor einigen Jahren studiert hatte. Der Krieg in seiner ukrainischen Heimat ist der Grund, warum er derzeit wieder bei uns im Postgraduate Programm studiert. Sergejs Mitwirkung hat unsere Entscheidung für diese Oper ermöglicht. Aufgrund der beinahe berüchtigten Herausforderungen des Werkes und der relativ kurzen Vorbereitungszeit seit Beginn des Sommersemesters haben wir uns dafür entschieden, diesmal nicht alle Rollen doppelt zu besetzen. Es ist also eine intensive und kompakte Zusammenarbeit für alle Beteiligten.

Falstaff ist ein Ensemblestück. Es gibt kaum „große Arien“, sowohl die Handlung als auch die Musik sind sehr verwoben. Wie habt ihr die Studierenden auf diese Form der Oper (die ja sehr gegensätzlich ist zu Humperdincks Hänsel und Gretel im vergangenen Wintersemester) vorbereitet und die Spiellust geweckt?

Röhrig: (Lacht) Danke für die Frage! Da gab es nichts zu wecken. Die Begeisterung für die Oper war von der ersten Probe an da. Verdis Feuer ist unmittelbar auf alle übergesprungen und ist nicht zu löschen. Alle Proben leben von der Energie des Ensembles und von der Lust, dieses Werk „auf die Bretter zu donnern“. In all den Jahren am Mozarteum habe ich es selten erlebt, dass sich alle Mitwirkenden des Ensembles so engagiert einlassen auf den gemeinsamen Entstehungsprozess.

Klepper: Sehr hilfreich war in der Vorbereitung die Mitarbeit von zwei Kollegen: Mit Ulfried Kirschhofer konnten die Studierenden innerhalb eines Workshops verschiedene Körperlichkeiten ausprobieren. Uns war von Anfang an bewusst, dass die Musik bei Falstaff nach Bewegung verlangt. Und Volker Wahl hat mit dem Ensemble einen Workshop zu Improvisation und Slapstick durchgeführt. Beiden Workshops lag das Ziel zugrunde, Hemmungen abzubauen, zu experimentieren und vor allem Spielangebote zu machen und von Kolleg*innen aufzunehmen.

Das Orchester hat in dieser Oper eine besonders starke Stimme, kommentiert und entwickelt eigene Motive, das Stück gilt auch als „Orchesteroper“. Wie wird euer Falstaff diesem Anspruch gerecht?

 Röhrig: Ich bin sehr gespannt auf die Arbeit mit dem Orchester. Als Assistent von Claudio Abbado konnte ich bei seiner Einstudierung des Falstaff bei den Osterfestspielen 2001 dabei sein. Er hatte sehr viel Respekt vor den Herausforderungen des Werkes und hat sogar die Stimmführer*innen der Berliner Philharmoniker ein paar Tage früher zu den szenischen Proben nach Salzburg bestellt. So saß ich also plötzlich nicht mehr allein am Klavier im Orchestergraben, sondern gemeinsam mit zwölf Orchestersolist*innen. Die intensiven Tage mit diesem reaktionsschnellen Kammerorchester führten dazu, dass die Übertragung auf das große Orchester ein paar Tage später absolut mühelos funktionierte. Diese „Mühelosigkeit“ ist schwer zu erreichen. Verdis Partitur lebt von vielen schnellen Wechseln. Das Orchester dröhnt so laut, dass das Dach wegfliegt und säuselt im nächsten Moment zum zärtlichen Duett des jugendlichen Liebespaares. Es grundiert den Tobsuchtsanfall des eifersüchtigen Ford, der dem Jago in der Oper Otello in nichts nachsteht, mit dramatischen Ausbrüchen, um im nächsten Moment die Rückkehr des herausgeputzten Falstaff mit einer Swing-Nummer zu unterlegen. In den zahllosen Brüchen und rasanten Kontrasten liegt zugleich der Reiz und die Herausforderung der Partitur. Für jedes Orchester ist die Erarbeitung dieses Werkes ein Meilenstein. Ich bin mir sicher, dass sich auch die Studierenden im Orchestergraben als Teil eines großen Ganzen fühlen werden. Während bei manch anderer italienischer Oper die Orchestermusiker*innen vor lauter Begleitfloskeln ins Koma zu fallen drohen, gönnt Verdi hier niemandem eine Verschnaufpause. Alle sitzen auf der Stuhlkante und werden mitgerissen. Ich freue mich also riesig darauf, diese Partitur mit dem hervorragenden Sinfonieorchester unserer Universität einstudieren und nach sehr vielen Jahren endlich mal wieder eine Verdi-Oper am Mozarteum realisieren zu können. 

Die Grundlage für das Tragische im Komischen haben Giuseppe Verdi und sein kongenialer Librettist Arrigo Boito gelegt: Wie komödiantisch wird dieser Falstaff? Wieviel Tragödie steckt in der Inszenierung dieser „Commedia lirica“?

Klepper: Bis zum Ende des vierten Bildes ist sicherlich die Komödie vorherrschend, aber mit Falstaffs Arie „Ehi! Taverniere!“ zu Beginn des fünften Bildes wendet sich das Blatt und verändert sich das Klima, aus Spaß wird Ernst. Keine gute Komödie ohne doppelten Boden. Wir haben uns die Frage gestellt, warum sich Falstaff überhaupt auf eine zweite Runde einlässt, nachdem er von allen bloßgestellt wurde. Ist er naiv? Oder ist er ein Spieler, der zu neugierig ist, als dass er ein (erotisches) Angebot ausschlägt? Oder will er – der Außenseiter – schlicht dazugehören? Und warum gibt es überhaupt diese Wiederholung des verbotenen Rendezvous, will Alice sich nur rächen oder wittert sie – und mit ihr die ganze Truppe – vielleicht eine Chance, aus ihrem bisherigen Leben auszubrechen und Grenzen zu überschreiten? Vielleicht von allem etwas. Der Alkoholeinfluss spielt bestimmt auch eine erhebliche Rolle, dass das Spiel außer Kontrolle gerät. Falstaff dient hier wie eine Art Katalysator. Im Bühnenbild von Romy Rexheuser öffnen sich im buchstäblichen Sinn Türen zu einer anderen Welt. Jedenfalls machen alle Figuren in dieser Nacht eine Erfahrung, die sie verändern wird. Was jeder Einzelne daraus macht, bleibt offen.